Textauszug "Freud schweigt"
Das Wasser troff ihm aus dem frisch gestutzten Bart, dem für zu viel Geld geschnittenen Haar und seinem Anzug. Dem guten, den er so nötig brauchte wie der Maurer seine Kelle und der Schuster seinen Leisten. Nicht, um seine Blöße zu bedecken und ihn zu wärmen, sondern um ihn als einen zivilisierten Menschen zu kennzeichnen. Doch wie sollten Pantalon und Gehrock ihm ihre Dienste tun, wenn in dem gekämmten Garn, das sackförmig an seinen dünnen Gliedmaßen herunterhing, grauer Schlamm, aufgeweichte Kohlblätter und unzweifelhaft als solche zu erkennende menschliche Exkremente klebten?Der Mann, der Sigmund Freud hieß – den Namen Sigismund Schlomo, den seine Eltern ihm gegeben hatten, hatte er schon als Oberschüler abgelegt – fühlte sich mit seinem Hamburg heute nicht befreundet. Die Fleete und Kanäle, mit denen er gerade Bekanntschaft gemacht hatte, waren berühmt für die stinkende Brühe, die von Ebbe und Flut wohl nur hin und her geschoben, niemals jedoch durch frisches Elbwasser ersetzt wurden. Alle Jahre wurden ihre Anwohner von der Cholera dahingerafft, die verlässlich wie die Gezeiten das Gängeviertel heimsuchte, ein Gewirr von Häusern, die sich in unkontrolliertem Wildwuchs miteinander verknoteten. Ratten tummelten sich selbst am Tag in den engen Gassen, in die niemals ein Sonnenstrahl fiel.
Als er das zarte Gesichtlein in dem vom Wind aufgewühlten Wasser des Fleets hatte aufblitzen sehen, hatte er noch an eine Sinnestäuschung geglaubt, für die er seine gereizten Nerven verantwortlich machte. Kaum eine Stunde hatte er mit seiner Martha für sich gehabt, dabei waren Monate seit dem letzten Zusammentreffen mit seiner Verlobten vergangen. Statt mit ihr zärtliche Worte zu tauschen, hatte er sich darin wiedergefunden, unter den Argusaugen der Prinzipalin von den Verhältnissen in seiner Ordination in Wien zu berichten. Ohne die Unwahrheit sprechen zu müssen, hatte er mit der Kunde einer vollen Praxis aufwarten können. Dass sich unter den Besuchern kaum mal ein zahlender Patient befand, hatte er indes diplomatisch verschwiegen. Allein schon Begeisterung für den unsäglichen Arztberuf zeigen zu müssen, strapazierte ihn über die Maßen. Er wusste, dass Marthas Mutter seine Ausführungen akkurat in Mark und Pfennig umrechnete. Ihr Blick hatte dabei unmissverständlich ausgedrückt, dass das Ergebnis zum Heiraten nicht reichte, worin er im Prinzip mit ihr übereinstimmte.
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